Journal RosaLux „Europa als Beute“
Die aktuelle Ausgabe des Journals der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich dem Thema „Politik in der Schuldenkrise“: Das Thema „Europa“, das ohne „Krise“ derzeit kaum gedacht werden kann, ist beides: sehr aktuell und von grundlegender Bedeutung
Zunehmend ist die Europa- und Krisenfrage mit einer umfassenden Demokratiethematik verbunden. In einem Wikipedia-Eintrag zum Stichwort «Postdemokratie» wird die Definition des britischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch zitiert: «Ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben.»
Postdemokratische Verhältnisse sind dort wie folgt definiert: „Postdemokratie bezeichnet ein politisches System, in dem es nicht auf die Beteiligung der Bürger, sondern nur auf Ergebnisse ankommt, die dem Allgemeinwohl dienen und dem Kriterium der Verteilungsgerechtigkeit genügen. Die gewählten Repräsentanten verlagern dabei ihre Kompetenzen auf Experten, Kommissionen und Wirtschaftsunternehmen. Der Bürger wird nicht als der Souverän betrachtet, in dessen Auftrag entschieden werden muss, sondern der befähigt werden muss, den vorgegebenen Anforderungen des Allgemeinwohls, meist verstanden als die Bedingungen des globalen Marktes, gerecht zu werden.“
Nun fällt es schwer, das Wort „Verteilungsgerechtigkeit“ mit den Diktaten, die Griechenland auferlegt werden, in Verbindung zu bringen.
Dennoch ist Griechenland ein verheerendes Lehrstück sowohl für eine zweite, besonders aggressive Welle neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik, als auch für die Preisgabe jener parlamentarischen Demokratie, die bürgerliche PolitikerInnen lange Zeit so hochgehalten haben. Aus linker Sicht ist diese parlamentarische Demokratie mit manchen Defiziten – bei sozialen Rechten oder Basisbeteiligung – verbunden. Derzeit erleben wir aber eine Gefährdung dieser Demokratieform in neuer Qualität. Wer jetzt „Europa spricht Deutsch“ formuliert, wer Griechenland einen Staatskommissar vorsetzen will, wer den griechischen Parteien eine Verpflichtung zur Einhaltung der jetzigen Regierungspolitik unabhängig vom Wahlausgang auferlegen möchte, wer den gewählten Institutionen dort die Kontrolle über ihren Haushalt entziehen will, der gefährdet die Demokratie in einer Weise, wie es wirkliche oder vermeintliche „Extremisten“ kaum könnten. Vielleicht ist den Staatskommissar-VerfechterInnen nicht bewusst, dass ein solcher im Juli 1932 unter Hindenburg und Papen in Preußen gegen eine demokratische Regierung eingesetzt wurde.
Vielleicht wissen sie auch nicht, dass der Anspruch auf parlamentarische Kontrolle über die Staatsfinanzen ein Ausgangspunkt sowohl des englischen Bürgerkriegs im 17. wie des amerikanischen Unabhängigkeitskampfs des 18. Jahrhunderts war.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist sich der Verantwortung, die sich aus den historischen Leistungen der Arbeiter- und anderer linker Bewegungen für die Demokratie ergeben, ebenso bewusst wie der Verbrechen, die vor allem in einem stalinistisch-autoritären „Sozialismus“ geschahen. Die Verteidigung und Rückgewinnung der parlamentarischen Demokratie und der Ausbau Europas zu einer solidarischen, sozialen und demokratischen Union ist uns daher ein elementares Anliegen. Solidarität mit den Menschen in Griechenland, nicht deutsche Dominanz, ist eine wirklich europäische Antwort.
(Editorial von Heinz Vietze, Vorstandsvorsitzender der RLS & Florian Weiß, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der RLS)
Inhalt
RÜCKBLICK
Symposium zum sozialen Wohnungsbau
Michael Hardt über Subjektivität in der Krise
Debatte zum Potenzial von Gemeingütern
Konferenz zur Lage der Roma in Europa
Workshops zum kommunalen Haushalt für Gemeinderäte
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei
John Holloway im Interview
AUSBLICK
Speakers Tour mit nordafrikanischen AktivistInnen
Linke Medienakademie in Berlin
Bundesweite Arbeit wird weiter ausgebaut
ANALYSE
Problem Verfassungsschutz
Ziviler Ungehorsam – Regelverstoß als Protestform
Interview mit chilenische Aktivistinnen Vallejo und Cariola
Afghanistankrieg und die Militarisierung der Gesellschaft
THEMA «Europa als Beute»
Lutz Brangsch über die Profite einer europaweiten Oligarchie
«Elite ruiniert EU» – Künftiger Büroleiter Sühl im Interview
Roland Kulke zur Postdemokratie in Italien und Griechenland
Thomas Sablowski über die Krisenfolgen für den Weltmarkt
Joachim Bischoff: Mangelnde Kontrolle des Finanzsektors
Lutz Pohle über Chinas Interesse an einem starken Euro
Ramona Hering zur Internetplattform «Europa Links»
Steffen Kühne über die wütende Protestgeneration
Was von Europa übrig bleibt – Ausblicke von Sahra Wagenknecht, Elmar Altvater und Margarita Tsomou
Publikationen und Veranstaltungen zur Krise/Glossar
STUDIENWERK
Gute Noten für Seminarprogramm für StipendiatInnen
Ehemaligentreffen in Prag
Stipendiatin Omonga über ihre Förderung
INTERNATIONALES
Eindrücke von den Protesten gegen Putin in Moskau
Das rote Exil – Sammelband in Havanna vorgestellt
Konferenz zum 100-jährigen Bestehen des ANC
Nach den Wahlen in Ägypten
STIFTUNG
Mitgliederversammlung will plurale Linke abbilden
Kaffee aus afrikanischen und amerikanischen Kooperativen
LESENSWERT
Buchbesprechung: «Kriegsverrat» von Jan Korte/Domic Heilig
Stiftung auf der Buchmesse Mitte März in Leipzig