Wenn die Erde eine Scheibe ist
Eine von der Sächsischen Zeitung nicht veröffentlichte Antwort auf ein Interview mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Tillich in der „Sächsischen Zeitung“ vom 8.3.2013
Eigentlich habe ich mir ein dickes Fell zugelegt. Aber manchmal genügt ein Tropfen, um das Fass zum Überlauf zu bringen. Als Europaabgeordnete kommt man gar nicht umhin, sich mit Auswüchsen der Homophobie auseinanderzusetzen, in Ungarn, wo rechte Schläger den Christoffer Street Day überfallen, oder Petitionsschreiben von Homosexuellen aus verschiedenen Ländern, die Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt sind. Auch Hetzmails rechter Parteien sind ab und zu im Postfach.
Gerade deshalb weiß ich die positiven Veränderungen in unserem Land zu schätzen und erlebe, wie Schritt für Schritt mehr Gerechtigkeit zwischen den Lebensentwürfen und –formen entstanden ist, wenn auch keine Gleichheit. Ich lebe seit mehr als 12 Jahren gemeinsam mit meiner Lebenspartnerin, seit 2009 sind wir verheiratet. Uns unterscheidet in der Lebensform nicht wirklich viel von Angela Merkels Ehe. Wir sind wie sie berufstätig und zahlen Steuern. Warum unsere Lebensweise weniger wert sein soll und keine Gleichstellung erfährt, ist mir schleierhaft. Eine sorgfältige Unterscheidung, verbal wie rechtlich, zwischen Merkels Lebensform und der unseren ergibt keinen Sinn. Wenn Herr Tillichs Vision vom Leben Vater, Mutter, Kind heißt, habe ich persönlich nichts dagegen. Wenn er dies zur politischen Strategie erhebt, aber schon. Denn die Welt ist längst eine andere. Jedes zweite Paar lebt ohne Kinder. Waren in 2000 noch 68% aller Familien in Sachsen Verheiratete mit Kindern, waren es in 2010 56%. Stetig wachsend sind nichteheliche Lebensgemeinschaften, in 2000 13% und 10 Jahre später bereits 21%. Ebenso steigend ist die Rate Alleinerziehender, die jetzt bei 24% liegt. Für jede Lebensform gibt es genügend vernünftige und höchst persönliche Gründe, ein Wandel zwischen den Formen gehört außerdem zur Normalität. Normalität sind auch gleichgeschlechtliche Lebensformen. Warum soll es normal sein, dass wir dieselben gesellschaftlichen Pflichten haben, die wir ja auch gern übernehmen, aber entsprechende Rechte verwehrt bleiben? Nehmen wir das Ehegattensplitting. Ich persönlich bin keine Anhängerin dieser Ehebegünstigung. Aber bitteschön, wenn es unbedingt bleiben soll, dann für alle Lebensgemeinschaften. Es gibt keinen Grund der Welt, eine kinderlose Ehe zu begünstigen und eine nichteheliche Lebensgemeinschaft z.B. mit drei Kindern nicht. Wenn Herrn Tillich das zu teuer ist, dann muss das Ehegattensplitting abgeschafft werden. Das wäre übrigens auch sinnvoller und Steuervorteile könnten zugunsten von Kindern oder auch Pflegbedürftigen geltend gemacht werden. Noch mal zurück zu Herrn Tillichs Vater, Mutter, Kind. Einer Studie des Bundesjustizministeriums zufolge wurden 2008 insgesamt 1059 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften befragt. Diese hatten 693 Kinder. Die Studie ergab übrigens, dass diese Kinder nicht weniger Fürsorge erfahren als Kinder heterosexueller Eltern und ganz normal aufwachsen. Also auch hier Entwarnung. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Unterschiede in der rechtlichen Stellung der verschieden Lebensformen zu machen. Es geht daher wirklich nicht um den despektierlichen Respekt von Stanislaw Tillich, sondern um Gleichstellung in allen Rechten und Pflichten. Das Leben bedeutet Vielfalt, aber doch nicht nur in Fauna und Flora. Die menschliche Vielfalt widerspiegelt sich nicht nur darin, dass einige Menschen in der Sahara leben und andere in Panschwitz-Kuckau, dass sie unterschiedliche Sprachen sprechen, an verschiedene oder gar keine Götter glauben. Auch die Vielfalt der menschlichen Lebensformen gehört dazu. Wenn nun Herr Tillich nach dem Kern seiner Partei sucht, habe ich viel Verständnis dafür, auch andere Parteien tun das. Aber wieso ausgerechnet wir gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften dafür herhalten müssen, wertkonservative Symbolpolitik in der Union aufrechtzuerhalten, finde ich ungerecht. Nachdem sogar die Atomkraft verlustig gegangen ist, scheint das Festhalten am verstaubten Familienbild der letzte Mohikaner der Union zu sein. Natürlich kann man wacker behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist, aber wirklich schlau ist das nicht. Die CDU sollte ihre eigenen Mitglieder ernst nehmen, unter denen prozentual vermutlich genauso viele Lesben oder Schwule vertreten sind, wie in der LINKEN oder der FDP. Schaden kann ihr das wirklich nicht.
Cornelia Ernst, Mitglied des Europäischen Parlamentes, DIE LINKE
Link zum Tillich-Interview „Zu einer Familie gehören Vater, Mutter und Kinder“ (auf der Internetseite der CDU Sachsen)