Der Merkel-Thatcherismus und kein Ende der Krise
In Brüssel und Berlin wurde das Ende der Krise verkündet. Das ist waghalsig angesichts der steigenden Arbeitslosigkeits- und Armutszahlen, der weiter wachsenden Staatsverschuldung jener Staaten, die unter dem Diktat der Troika stehen.
Bis heute haben die Regierenden die Ursachen der Krisen nicht ernsthaft ins Visier genommen. Im Gegenteil. Frau Merkel und die hinter ihr stehende Finanz- und Wirtschaftslobby treiben unvermindert die neoliberalen Privatisierungen und Liberalisierungen voran. Sollten nicht gerade bei uns Ostdeutschen die Alarmglocken läuten, wenn wir vom Vorschlag hören, Griechenland solle die Privatisierung des Staatseigentums in die Hände einer Agentur unter Aufsicht der Troika geben? Die Treuhand lässt grüßen.
Angela Merkel verkörpert eine Politik in der EU, die ich als Merkel-Thatcherismus bezeichne. Die „Eiserne Lady“ Thatcher, englische Regierungschefin in den 80ern, stand für den rücksichtlosen neoliberalen Umbau des Staates und der Gesellschaft: systematisch wurde öffentliches Eigentum privatisiert, soziale Sicherungssysteme ausgehöhlt, die Unter- und Mittelschicht mit den Kosten einer rigiden Sparpolitik belastet. Am Ende war das Land tief gespalten. Die von Thatcher betriebene De-Industrialisierung trieb viele Städte an den Rand des Ruins. Die Wirtschaft wurde in eine angeblich moderne Dienstleistungs- und Finanzindustrie umgebaut, die zu einem unverantwortlichen Casino-Kapitalismus führte.
Genau dieser Linie folgt Angela Merkels Europapolitik. Die in Not geratenen Staaten müssen sich Strukturprogrammen unterwerfen, die im Kern den Ausverkauf des Öffentlichen – öffentliches Eigentum, öffentliche Dienstleistungen, die kommunale Daseinsvorsorge, soziale und ökologische Standards – zum Ziel haben. Um an zinsgünstige Kredite aus dem Rettungsfonds zu kommen, müssen die Schuldnerländer öffentliches Eigentum verschleudern. In Griechenland, Spanien, Portugal und Italien stehen Wasserversorgung, öffentlicher Nahverkehr, Energieversorgung und Krankenhäuser zum Verkauf. Die Troika besteht auf diesem Privatisierungsexzess. Dabei hat sich längst gezeigt, dass Privatisierung zu Qualitätsverlust und steigenden Preisen auf Kosten der Verbraucher führt.
Um die Staatsausgaben zu reduzieren, werden zehntausende Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, Renten und Pensionen gekürzt und massiv in den Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystemen eingespart. Leidtragende sind Beschäftigte, Arbeitslose, Kranke, alte und junge Menschen, Migrantinnen und Migranten. Die schwindende Kaufkraft der Bevölkerung treibt kleine und mittelständische Betriebe in den Bankrott. Arbeitslosenraten explodieren – in Griechenland und Spanien hat jeder zweite junge Erwachsene keinen Job – und die Steuereinnahmen brechen ein. Den Aufbau gerechter Steuersysteme, die die Reichen mitbezahlen lassen, fordert Merkel nicht. Die Staatsschulden steigen, obwohl die exzessive Sparpolitik das Gegenteil bewirken sollte. Merkels autoritär-neoliberale Sparpolitik endet im Teufelskreis aus Hoffnungslosigkeit, Armut und Frust.
Die riesige Verschiebung öffentlichen Eigentums in private Hände bedeutet eine unerträgliche Umverteilung von Geld, Macht und Kontrolle auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit. Solidarität und Gemeinsinn werden ausgehöhlt. Eine echte Gefahr für die Demokratie.
In Deutschland kann sich Merkel über ihre Beliebtheit freuen. Unsere Nachbarn sehen in ihr eine brutale Macht- und Interessenpolitikerin, die für Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau verantwortlich ist. Diese Politik sorgt dafür, dass vergessen geglaubte Vorurteile zwischen den Menschen in Europa zunehmen, dass nationale Engstirnigkeit Oberhand gewinnt. Nach Merkel soll am deutschen Wesen Europa genesen. Eine Blamage für uns alle.
Deshalb können wir nicht zulassen, dass sich unsere Nachbarn um Kopf und Kragen sparen. Nötig wäre eine Überprüfung der Staatsschulden, um zu sehen, welcher Teil auf Spekulationen an den Finanzmärkten oder auf Auflagen der Troika zurückgeht. Die übrigbleibenden Schulden müssen vernünftig abgebaut werden, ohne ganze Volkswirtschaften zu erdrosseln. Wir müssen in Bildung, Gesundheit und sozial-ökologische Entwicklung investieren, um den Menschen eine Zukunft zu geben. Im Zentrum dieser Politik muss der Kampf um die Wiedergewinnung des Öffentlichen stehen. Nur so kann die EU verlorenes Vertrauen wieder aufbauen.
Gabi Zimmer (MdEP), Vorsitzende der GUE/NGL Fraktion im Europäischen Parlament, erschienen in: LINKS Oktober 2013