Hintergrundbericht zur Neuausrichtung der EU-Kohäsionspolitik
Mit Milliardensummen fördert die EU die Regionen Europas – notleidende wie reiche. Viele Staaten würden ohne diese Gelder kaum auskommen. Jetzt reformiert die EU ihre Kohäsionspolitik: Vieles wird anders, aber wird es auch besser? – von dpa Insight
(von Joachim Weidemann, dpa EU/Finanzen/Regionales/Analyse, 14.11.2013)
Ein Verhandlungspoker über 325 Milliarden Euro geht zu Ende: In mehr als 70 Trilogrunden haben Europaparlament, Rat und EU-Kommission binnen 15 Monaten eine Reform der europäischen Struktur- und Investitionsfonds zurechtgezimmert.
Für EU-Regionalkommissar Johannes Hahn hat sich die Arbeit gelohnt. Außerhalb Europas werde die Reform der sogenannten ESI-Fonds als «das innovativste Instrument für Wachstum und Beschäftigung» wahrgenommen, sagte der Kommissar stolz. De facto würden aus den 325 Milliarden Euro an EU-Mitteln unter dem Strich sogar mehr als 500 Milliarden Euro an Finanzmitteln – dank der Kofinanzierung der Mitgliedstaaten und dem Einsatz neuer Finanzinstrumente.
Anfang November 2013 segnete der Regionalausschuss des Europaparlaments die Reform ab. Eine Annahme durch das gesamte Plenum in erster und einziger Lesung noch vor Ende des November gilt als wahrscheinlich. Ein Scheitern wäre eine Katastrophe – für Parlament, Mitgliedstaaten und das Image der EU.
Das Image der EU – gerade dafür sind die Fonds besonders wertvoll. Doch die jetzige Reform den Bürgern zu erklären – das fällt selbst jenen schwer, die sich seit Jahrzehnten mit der Kohäsionspolitik befassen, gegen Abgeordnete aller Couleur zu. Denn von den Händeln und Deals hinter den Kulissen erfährt man nur einen Teil.
So klaffen Schein und Sein und die öffentliche Meinung über die EU-Fonds auseinander. Ein Paket von Verordnungen, ein Dickicht von Ergänzungen, delegierten Rechtsakten und Verwaltungsvorschriften rauben den Blick fürs Wesentliche: Wächst Europa nach der Reform wirklich weiter zusammen?
Kohäsionsfonds als Motor einer neuen Politik?
Die Kommission hat nach Einschätzung der meisten Abgeordneten, etwa der zuständigen SPD-Berichterstatterin Constanze Krehl, tatsächlich versucht, neue thematische Akzente in der Förderpolitik zu setzen. Nun erwartet sie von den Mitgliedstaaten auch eine neue Politik.
Die Parolen klingen gut: Intelligente Spezialisierung, Forschung und Innovation und die Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen zählen dazu, aber auch die Umstellung auf eine CO2-arme Wirtschaft, die Anpassung an den Klimawandel, ein effizienterer Umweltschutz und eine nachhaltige Nutzung von Ressourcen. Selbst die Förderung der Mobilität von Arbeitskräften und die Bekämpfung der Armut dürfen nicht fehlen. Aber was wird aus diesen Zielen?
Zunächst müssen Strategien her, dann sogenannte operationelle Programme, innerhalb derer diese Ziele erreicht werden sollen. Denn laut Hahn gilt die Maxime: «Das Geld folgt künftig der Strategie, nicht umgekehrt.» Es soll keine Fördergelder mehr geben ohne Plan und Ziel.
Doch Regionalpolitiker schätzen die Praxis anders ein: Bisher würden alte Projekte nicht ersetzt, sondern zurechtgebogen, bis sie in die neuen Zielvorgaben passten: «Die machen ihren Schuh – so oder so», geben Regionalpolitiker zu. Denn die Mittel sind bereits quotal verteilt – es gibt nun keinen Wettbewerb zwischen den EU-Staaten mehr.
Andere Staaten wiederum sind überfordert: Sie wären nicht imstande, neue Strategien zu entwickeln, selbst wenn sie wollten: Sie kämpfen gegen die andauernde Wirtschafts- und Schuldenkrise und ums politische Überleben. Sie mussten sparen und ihre Verwaltungen personell zusammenstreichen. Es fehlen ihnen die Institutionen für eine effiziente Planung.
Die EU-Kommission wird nicht umhinkommen, im ersten Fall mehr Druck zu machen – im zweiten mehr Hilfestellung zu geben als bisher. Das bedeutet mehr Verantwortung der EU-Kommission für die Mittelvergabe – genau wie es der EU-Abgeordnete Markus Pieper, CDU-Experte für Regionalpolitik und Haushaltskontrolle, wiederholt gefordert hat.
Zu allem Überfluss hat sich der Beschluss des Reformpakets um mehr als zwei Jahre verspätet, wie Brüsseler Kohäsionsexperten zugeben. Die EU-Finanzminister gaben sich zäher denn je und wollten sparen, sparen, sparen. Das derart provozierte Parlament blockte, blockte und blockte. Diese Verhärtung der Fronten kostete Zeit – und erst die litauische Ratspräsidentschaft brach das Eis. EU-Kommissar Hahn geht davon aus, dass es noch bis Mitte 2014 dauern wird, die Reform an der Basis zu vermitteln.
Mangelnde Absorptionsfähigkeit
Wer an der Basis arbeitet weiß aber auch: Die Planzahlen der Fonds sind eigentlich eine Illusion. De facto schöpften die meisten EU-Staaten ihre Fördermittel aus der bisherigen Planungsperiode 2007 bis 2013 nicht einmal zu 80 Prozent aus. Einige Länder – etwa Bulgarien und Rumänien, aber auch Italien – lagen bis Mitte Oktober noch 50 Prozent. Sie verschenken ihre Chancen.
Drei Gründe gibt es dafür: Erstens sind die Verwaltungen in vielen EU-Staaten nicht ausreichend ausgebildet und machen Fehler. Etwa bei Ausschreibungen, wie auch der Europäische Rechnungshof jüngst wieder monierte. Das muss sich ändern.
Zweitens fehlen gerade den Krisenstaaten die Mittel zur Kofinanzierung, so dass die EU sich etwa in Griechenland gezwungen sah, die nationale Kofinanzierungsrate zu senken. Das bewirkte in der Tat, dass Griechenland plötzlich mehr Mittel abschöpfen konnte, dürfte aber wiederum die ordnungsgemäße Verwaltung der Mittel strapazieren.
Drittens waren die EU-Finanzminister der Nettozahler immer froh, wenn das EU-Fördergeld nicht gänzlich ausgegeben wurde. Denn bisher flossen nicht genutzte Fördergelder wieder in die nationalen Staatskassen zurück. Das soll sich allerdings ändern. Mit dem neuen mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2014 bis 2020 gilt erstmals, dass nicht ausgeschöpfte Mittel im Budget der EU bleiben.
Kontrolle versus Solidarität?
Der Druck auf die EU-Kommission ist groß. Finanzminister und EU-Rechnungshof verlangen mehr Kontrolle. Diese hat Hahn auch in die Reform eingebaut, die damit eine gewisse soziale Kälte ausstrahlt und nicht immer solidarisch wirkt.
Denn einmal gibt es Vorabbedingungen für Fördergelder – sogenannte «ex-ante-Konditionalitäten». Hahns Beispiel: Geld für Straßen gibt es nur noch, wenn der Mitgliedstaat zuvor seine Verkehrswegestrategie vorgelegt hat. Dieses Instrument wurde allseits begrüßt.
Zum anderen aber gibt es volkswirtschaftliche Auflagen, sogenannte «makroökonomische Konditionalitäten». Die Kommission könnte künftig bis zur Hälfte der zugesagten Mittel aussetzen, wenn ein Staat fortwährend gegen volkswirtschaftliche Empfehlungen verstößt. Artikel 21 der neuen ESI-Verordnung besagt, dass Mitgliedstaaten in finanziellen Schwierigkeiten aufgefordert werden können, ihre Regionalprogramme zu überarbeiten. Verweigert ein Staat die Kooperation, können Gelder unter bestimmten Bedingungen gestrichen werden.
Das wollte das EU-Parlament lange Zeit nicht schlucken. Bis es schließlich über das Instrument einer Stellungnahme an der Entscheidung beteiligt wurde. Für Cornelia Ernst, EU-Abgeordnete der Linken, bleibt dies untragbar: Das «letzte Stündlein für die solidarische Fördermittelpolitik» habe geschlagen, meinte sie. Fördermittel gebe es dann «größtenteils nur noch für Mitgliedstaaten, welche die europäischen Verschuldungskriterien einhalten». Das verunsichere Projektträger und Projektfinanzierer – denn sie müssten nun immer fürchten, dass Fördermittelzusagen von EU-Seite gestrichen werden.
Dagegen beteuerte Hahn: Es handle sich um das allerletzte Mittel, das die Kommission «hoffentlich nie» einsetzen werde. Und er erhält sogar Rückstärkung von den Grünen: Deren Kohäsionsexpertin Elisabeth Schrödter war von Beginn an für wirksamere Kontrollinstrumente und wollte sogar konkrete Meilensteine einführen.
Förderung für reiche Staaten?
Was indes – erstaunlicherweise – kaum einer der Entscheider mehr infragestellt, von britischen Konservativen abgesehen: Warum gehen so viele Fördermittel auch an reiche EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien? Können diese ihre regionalen Probleme denn nicht selbst lösen und den Haushalt entlasten?
17,146 Milliarden Euro wird beispielsweise Deutschland zwischen 2014 und 2020 aus den regionalen Fördertöpfen der EU erhalten, wie aus Zahlen der Kommission vom Oktober 2013 hervorgeht. Selbst Wachstumsregionen wie Leipzig werden noch gefördert. Etwa 8,719 Milliarden Euro gibt es für Übergangsregionen, deren Bruttoinlandsprodukt zwischen 75 und 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt. 7,583 Milliarden Euro sind für entwickelte Regionen, deren Bruttoinlandsprodukt über 90 Prozent des EU-Schnitts liegt, vorgesehen. Und 0,845 Milliarden Euro schließlich wurden für die territoriale Zusammenarbeit eingeplant.
Ist das gerecht? Ja, denn alle Europapolitiker wissen, dass auch die Bürger reicher EU-Staaten – der sogenannten Nettozahler – einen konkreten Gewinn in Europa sehen müssen, um es mitzutragen. Gerade Ostdeutschland – da sind sich alle Experten einig – hat die Entwicklung seiner Infrastruktur und Wirtschaft vor allem der EU-Förderung zu verdanken.
Und noch ein Argument spricht für die Förderung der reichen Staaten: Selbst Wirtschaftsboomer wie Bayern oder Schwergewichte wie Nordrhein-Westfalen haben strukturschwache Gebiete. Diese sollten im europäischen Verbund gefördert werden, um regionale Flickschusterei im wichtigsten Transitland Europas zu vermeiden.
Ergebnisse, Ergebnisse, Ergebnisse …
Zumal nach der neuerlich nochmals gestiegenen Zahl von Fehlern bei EU-Finanzierungen verspricht Kommissar Hahn mit der Reform eine stärkere Ergebnisorientierung, verständliche und überprüfbare Indikatoren, unbürokratische Berichterstattung, ein neues Monitoring und eine bessere Evaluierung. Leistung werde zudem mit einer Leistungsreserve belohnt, die für jeden Mitgliedstaat von dessen Finanzmitteln einbehalten wird. Diesen Ansatz finden Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne gut – sind aber auf die Umsetzung gespannt.
Polens Spitzenposition – Treuelohn oder Blase?
Dies wird auch für Polen gelten. Das Land erhielt für die Jahre 2014 bis 2020 einen ordentlichen Zuschlag: 72,568 Milliarden Euro aus den Kohäsions- und Strukturfonds – im Vergleich mit 44,12 Milliarden Euro im Zeitraum von 2007 bis 2013. Zum Vergleich: Auf Platz 2 für die Periode 2014 bis 2020 folgt Italien mit 29,2 Milliarden Euro.
Zahlen hin, Zahlen her: Polens wundersame Mittelverwertung hat mehrere Lesarten. Kommissar Hahn sagte schlicht, es liege an Polens Einwohnerzahl und der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Doch andere EU-Politiker sagen hinter vorgehaltener Hand, es gebe eher interne Deals im Rat der Europäischen Union: Polen habe im Frühjahr 2013 sehr gut verhandelt und solle nun gestärkt werden, um die intergouvernementale Achse Paris-Berlin nach Osten zu verlängern. Insbesondere die Bundesregierung habe sich hierfür stark gemacht. Ist es doch durchaus im Interesse Berlins, der pro-europäischen Regierung um Donald Tusk den Rücken zu stärken.
Schöner Nebeneffekt aus deutscher Sicht: Gerade von der Strukturhilfe in Polen profitieren auch deutsche Unternehmen besonders stark. Hahn sagte im November 2012 in einem Interview der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: «Man sollte nicht vergessen, dass exportorientierte Länder wie Deutschland oder Österreich von dem in die strukturschwächeren Länder investierten Geld besonders profitieren. Uns liegen Studien vor, wonach von jedem Euro für Strukturfondsmittel, die von Deutschland nach Polen fließen, 89 Cent wieder in Form von Aufträgen an deutsche Firmen gehen.»