Als ich letzten Dezember in Duisburg war, führten mich unsere Stadtratsgenoss/innen durch ihre Stadt. Duisburg ist etwas kleiner als Dresden, wesentlich ärmer und hat einen monatlichen Zuzug von ca. 200 Einwanderern.
Geschätzte 8000 Roma aus Bulgarien und Rumänien sind nach Duisburg gekommen, die meisten kennen sich aus ihrer Herkunftsregion. Sie sind Einwanderer, nach EU-Recht steht ihnen Freizügigkeit zu. Aus bitterarmen Verhältnissen stammen sie, die meisten leben jetzt im Stadtteil Hochfeld. Es gibt einen Platz in der Stadt, wo jeden Morgen Hunderte Roma stehen und als Tagelöhner von Firmen angeheuert werden. Sie erhalten Lohn, besser „Taschengeld“, oder manchmal gar nichts. Ein gutes Geschäft nicht nur für halbseidene Firmen. Geht man durch die Stadt, dann findet man in diesem Stadtteil, den „Die Zeit“ zum “Symbol des Schreckens“ hochstilisiert hat, nicht nur das so genannte Problemhochhaus, wo auf kleinstem Raum an die 1000 Menschen leben, sondern auch an jeder Straßenecke Vereine und Organisationen zur Beratung und Betreuung der Neuankömmlinge. Ich habe selten so viele unterschiedliche Anlaufpunkte für Einwanderer gesehen wie dort. Duisburg selbst ist mit 2 Mrd. Euro hoch verschuldet. Sie ist auf private Betreiber solcher Häuser angewiesen, weil sie selbst keinen sozialen Wohnungsbau betreibt und keine Wohnungen in hat. Die Stadt erarbeitete ein Handlungskonzept zur Integration der Einwanderer, das ca. 18 Mio Euro zwingend benötigt. Das Land hat aber nur 1,6 Mio herausgerückt. Es gibt kein Programm der Regierung, das speziell auf die erhöhten Integrationsbedürfnisse dieser Region zugeschnitten wäre, obwohl die EU vorschreibt, Aktionspläne dafür zu erarbeiten. Dafür gibt es eine EU-Roma-Strategie, die zur Wohnungs- Bildungs- Gesundheits- und Arbeitsintegration konkrete Vorgaben macht. Aber diese im Ganzen vernünftige Strategie wird nicht „verordnet“, es mangelt also an Verbindlichkeit, obwohl das Europaparlament diese eingefordert hat. Als Verordnung oder Richtlinie könnte bei deren Nichtumsetzung beispielsweise mit einem Vertragsverletzungsverfahren die Umsetzung erzwungen werden, wie in Wirtschaftsangelegenheiten üblich. Duisburg kann aufgrund der hohen Verschuldung selbst keine EU-Mittel abfassen. Es sei denn die Kofinanzierung würde das Land übernehmen, tut es aber nicht.
Ab 2014 sieht sowohl der EFRE-Fonds als auch der ESF-Fonds spezielle Fördermöglichkeiten für „marginalisierte Gemeinschaften“ besonders „von Diskriminierung Betroffene“ vor. Mit dem Blick insbesondere auf Roma wurden die Zielstellungen beider Fonds durch die Förderung solcher Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen ergänzt, übrigens auf Grund unseres Fraktionsantrages in den Verhandlungen. Nun muss regional gehandelt werden, das heißt auf Landesebene. Natürlich gibt es auch Bundes- und Landesprogramme, die genutzt werden können, wie die Soziale Stadt oder Quartiersmanagement etc. So bleiben Möglichkeiten ungenutzt und Probleme offen. Die alten und neuen Duisburger werden vom Land hängen gelassen. Also tun sie das, was irgend geht. Roma-Kinder werden mit Erfolg beschult, Eltern gleich mit einbezogen. Ich habe in Duisburg viele engagierte Menschen kennen gelernt, vor denen ich mich verneige.
Und doch sorgt das fehlende Zusammenspiel zwischen europäischer und Landespolitik dafür, dass Probleme wie mit einem Schneeschieber aufgetürmt werden. Und da haben wir noch den Rassismus, gut geschürt vom ehemaligen Innenminister und dem bayrischen Großfürsten in Union, zusammen mit dem britischen Premier. Weil sie die von ihnen zwar lange verzögerte, aber letztlich nicht verhinderte Freizügigkeit von Bulgarien und Rumänien nicht noch weiter verschieben konnten, schlugen sie im Europäischen Rat vor, die Freizügigkeitsrichtlinie zu novellieren. In den ersten drei Monaten sollen Einwanderer keine Sozialhilfe leisten, Sozialhilfeleistungen sollen gekürzt werden, wenn jemand arbeitslos wird oder ist. Damit gerieten Europas Nationalisten in direkten Konflikt mit der Kommission. Die Kommissare Reding und Andor wiesen diese Ungleichbehandlung zurück, übrigens mit breiter Unterstützung des Europaparlamentes. Eine pauschale Absenkung der Sozialhilfe für Einwanderer verstößt gegen EU-Recht und kann daher in der Bundesrepublik nicht durchgesetzt werden. Bis der nächste „Vorschlag“ der konservativen Clique von CSU und CDU kommt.
An diesem Beispiel zeigt sich die enge Verknüpfung von europäischer Landes- und kommunaler Politik. 60 bis 70% aller unmittelbaren Entscheidungen in der Kommune haben mit EU-Recht zu tun, im Guten wie im Schlechten. Die gesamte Innenpolitik unseres Landes ist europäische Innenpolitik, eher von Brüssel als von Berlin geprägt, was die Grundausrichtung angeht. Das trifft für andere Politiken auch zu, Vergabepolitik, Regional- und Strukturpolitik, Umweltpolitik, Klimaschutzpolitik, Landwirtschaftspolitik.
Und die Fragen sind immer konkret, auch in Bezug auf die Frage wie wir einen Politikwechsel in der EU hinbekommen. Die EU zum Hort des Bösen zu erklären, bringt uns nicht weiter. Abgesehen davon, dass es die Politik der Regierungen im Rat, die die Musik in der EU weiterhin bestimmen wollen, also Merkel und Co., entlastet, ist es auch noch falsch. Der Fiskalpakt zum Beispiel, mit dem ganze Mitgliedsstaaten ausgeblutet werden können, wurde weder vom Europaparlament noch von irgendeinem anderen Parlament der Welt beschlossen. Aber von 25 Regierungschefs.
Genau deshalb brauchen wir eine andere, soziale und gerechte EU-Politik. Natürlich muss die EU reformiert werden! Für diese Frage müssen wir uns auf die europäische Ebene einlassen, sie als eine eigenständige Politikebene geistig wahrnehmen, politisch betreiben und nicht als Wurmfortsatz des Bundestages betrachten.
Wir müssen klären, wie wir die Demokratie auf dieser Ebene stärken wollen, sie transparenter gestalten, damit die Mitsprache der Bürger/innen erleichtert wird. Welche konkreten Aufgaben müssen wir in den einzelnen Politikfeldern angehen? Welche Bündnisse auf europäischer Ebene sind dafür nötig und möglich? Wie kriegen wir es hin, Rechtsextremisten und -populisten auf europäischer Ebene wirksamer zu bekämpfen?
Wir sind als Linke die Einzigen, deren Zielstellung es ist, eine Sozialunion auf europäischer Ebene zu entwickeln. Niemand sonst steht für diesen Politikansatz und gilt aus dieser Sicht als glaubwürdig. Auch deshalb hat die Europäische Linke Alexis Tsipras zu ihrem Europäischen Spitzenkandidaten gewählt, die beste Antwort, und eine redliche, die sich Merkel und C. wahrhaft verdient haben.
Vielleicht ist das ein bisschen so wie David gegen Goliath. Aber nicht nur die Griechen haben sich ein widerständlerische und einflussreiche Linke verdient. Auch die EU.
Und wer jetzt noch fragt, wieso man am 25. Mai zu den Europawahlen gehen soll, dem kann man nur sagen: Komm, wähle die Linken, egal wo! Es ist besser so…
Dr. Cornelia Ernst (MdEP), erschienen in: Sachsens Linke 02/14