Drei Tage in Polens 15. EU-Jahr
Vor 14 Jahren, am 1. Mai 2004, wurden 10 Staaten Mitglied der EU. Neben Polen hatten sich auch Estland, Lettland, Litauen, Malta, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern dafür entschieden. In allen diesen Ländern waren dieser Entscheidung Volksabstimmungen vorausgegangen. In Polen nahmen fast 59 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teil, 77,45 Prozent stimmten für den Beitritt. Von dieser Zustimmung wie auch von der Aufbruchstimmung scheint nicht mehr viel übrig zu sein.
Um sich über die aktuelle Lage zu informieren begab sich die Europaabgeordnete Dr. Cornelia Ernst mit einigen ihrer Mitarbeiter*innen für drei Tage auf europäische Spurensuche in Polen. Dabei ging es ihnen auch darum, Kontakte zu linken, feministischen, sozialistischen und ökologischen Organisationen und Initiativen zu knüpfen. Am 8. Mai traf man sich morgens mit dem Büroleiter Warzawa der Rosa-Luxemburg- Stiftung (RLS), Holger Politt. Mit einem Taxi gab es eine Stadtrundfahrt, in der es um die Stadt und deren Geschichte ging. In den Räumen der Stiftung ging es dann um die politische Lage in Polen und die Arbeit der Stiftung. Im Gegensatz zur RLS in Deutschland, kann die RLS Warszawa keine eigenen Veranstaltungen durchführen und arbeitet sehr eng mit lokalen Initiativen und Organisationen vor Ort. Dabei werden vor allem langfristige Projekte für einen Zeitraum von drei Jahren konzipiert und durchgeführt. Jedoch wirkt sich die nationalkonservativ bestimmte Politik des Landes auch auf die Stiftungsarbeit aus. Das lässt sich gut an der Kontroverse um den Namen der Stiftung veranschaulichen. Der Paragraph 17 der polnischen Verfassung, welcher die Propaganda von totalitären Systemen verbot, wurde unter der Regierung Jarosław Kaczyńskis umgeschrieben und richtet sich nun gegen alles, was unter die vage Sammelbezeichnung “kommunistische Propaganda” fällt. Dabei wird unter “Propaganda” alles verstanden, was öffentlich ist und gesehen werden kann. Durch diese Änderung des Paragraphen in der Verfassung, ist auch der Name „Rosa Luxemburg“ angegriffen. Auf dieser Grundlage wurde die Gedenkplakette am Geburtshaus von Rosa Luxemburg entfernt. Während dessen hat die nationalkonservative und rechtspopulistische PiS weitere “Schließung der Lücken” im Paragraphen angekündigt, so dass es nicht ganz auszuschließen ist, dass die Arbeit der RLS in der Zukunft noch weiter erschwert werden könnte, sollte die PiS eine weitere Legislatur im Parlament verbringen.
Dennoch stößt die Stiftung trotz teilweise widrigen äußerer Umstände immer wieder wichtige Projekte an. Dazu gehört das Projekt “Kinder des Holocaust’”, in dessen Zuge Bildungsveranstaltungen durchgeführt und Publikationen veröffentlicht wurden. Darüber hinaus ist hierbei die von Holger Pollit besonders hervorgehobene Ausstellung „Meine jüdischen Eltern, meine polnischen Eltern” entstanden, die aktuell im Museum für jüdische Geschichte in Warschau und in der Gedenkstätte Treblinka gezeigt wird. Hier schildern 15 Tafeln Schicksäle und Geschichten von Überlebenden des Holocausts, die im Kindesalter durch Polinnen und Polen gerettet wurden. Dr. Cornelia Ernst plant gemeinsam mit der RLS, diese Ausstellung sowohl in Deutschland, als auch im Europäischen Parlament in Brüssel zu zeigen.
Am frühen Nachmittag traf man sich mit Vertreter*innen der Izabela-Jaruga- Nowacka-Stiftung. Die polnische Politikerin Izabela Walentyna Jaruga-Nowacka lebte von 1950 bis 2010. Sie war Abgeordnete des Sejm in der II., IV., V. und VI. Wahlperiode, Vorsitzende der Unia Pracy und der Unia Lewicy und darüber hinaus eine wichtige polnische Feministin. Sie war auch Stellvertretende Premierministerin in den beiden Kabinetten Marek Belka. Als Feministin setzte sie sich vehement für die Rechte von Frauen* ein. Die Vertreter*innen der Stiftung schilderten die Folgen der misogynen (frauenfeindlichen) und rechts-konservativen Politik der aktuell regierenden Partei PiS. So wurde das Abtreibungsverbot ausgeweitet. Doch seit 2016 finden in Polen vermehrt Proteste von Frauen statt, die das Potential haben, sich zu einer feministischen Massenbewegung zu entwickeln. An den Protesten, wie den feministischen „Black protests“, nahmen bis zu 55.000 Menschen teil.
Bei einem weiteren Gespräch mit Vertrer*innen der Federation for Women and Family Planning ging es nochmals um frauen*feindliche Politik des Landes. So gibt es im ganzen Land lediglich 46 Kliniken, die Abtreibungen durchführen. Die Folge davon, dass nur ca. 10 Prozent der Klinken dies machen, ist neben dem Umstand, Abtreibungen größtenteils im Ausland (Deutschland, Litauen) durchgeführt werden, die Zahl von illegalen Abtreibungen im Untergrund steigt. Hierbei zeigt sich ein weiteres Problem, denn nur wohlhabende Frauen* können sich Abtreibungen im Ausland leisten, während weniger wohlhabende Frauen* gezwungen, werden lebensgefährliche illegale Abtreibungen vorzunehmen. Daneben ist der Zugang zu Verhütungsmitteln streng begrenzt. Nur 44 Prozent der polnischen Bevölkerung sollen Zugang zu Verhütungsmitteln haben, was eine der niedrigsten Raten von allen europäischen Ländern ist. Hinzu kommt, dass es im katholisch geprägten Schulwesen keine Aufklärung auf diesem Gebiet gibt und der Sexualunterricht in der Schule vor allem unter dem Aspekt der Fortpflanzung und der Betonung der traditionellen Werte stattfindet. Deshalb organisiert die Federation Aufklärungsunterricht und unterstützt Eltern, die sich selbst organisieren und diesen Unterricht privat abhalten.
Am Abend folgte eine Runde mit zwei Vertreter*innen der Kampagne gegen Homophobie. Diese schilderten, dass sich die allgemeine Stimmung im Land gegenüber LGBTIA-Q*- Menschen (Lesbian, Gay, Bi-, Trans-. Asexual – Queer) zwar in den letzten Jahren (vor allen in Warzawa und anderen großen Städten) gebessert habe, dennoch gibt es auf der rechtlichen Seite noch viel zu tun. Seit 2004, also seit dem EU-Beitritt, gibt es keine signifikant-positive Änderung der Gesetzgebung. Die jährlich stattfinden Demonstrationen für die gleichen Rechte werden zwar von vielen Ländern und deren Botschaften, 2016 waren es immerhin 40 Botschaften, unterstützt. Dennoch reagiert die aktuelle Regierung mit dem Versuch die Finanzmittel der NGOs, die sich für die Rechte von LGBTIAQ*-Personen einsetzen, zu beschneiden. Darüber hinaus äußerte sich ein PiS-Politiker dazu mit den Worten, dass es unter dieser Regierung keine „Homo-Ehe“ geben wird. Dr. Cornelia Ernst schlug vor, mit der Landesarbeitsgemeinschaft Queer der Partei DIE LINKE und gemeinsam mit lokalen Bündnissen, wie dem Rosa-Linde e.V. Leipzig, aufklärerische Aktivitäten in Polen zu unterstützen.
Am Folgetag begab man sich auf geschichtliche Spurensuche. So ging es um die jüdische Geschichte Warzawas. Eine Expertin führte über den jüdischen Friedhof und die dazugehörige Gedenkstätte auf „Umschlagplatz“, dessen Name seit der Besatzung durch die Nazis nicht geändert wurde. Hier wurden über 300.000 Jüd*innen von des Nazis in die Vernichtungslager deportiert. Hier begann die Tour der Delegation auf den Spuren des Jüdischen Widerstandes im Ghetto bis hin zum Aufstand. Am Nachmittag folgte ein informelles Treffen mit Vertreter*innen von Razem Warzawa sowie des Executive und National Boards von Razem Polen. Razem ist eine moderne, feministische und linke Partei in Polen. Sie wurde am 16. Mai 2015 gegründet und entstand als Reaktion auf die Krise der politischen Linken in Polen. Initiator*innen sind unter anderem Angehörige der ehemaligen Gruppierung Młodzi Socjaliści („Junge Sozialisten“) sowie frühere Funktionäre der Partia Zieloni (Die Grünen). Die Formation wird von einem neun Personen umfassenden Vorstand geführt (darunter Adrian Zandberg und Agnieszka Dziemianowicz-Bąk). Die Partei lehnt das bei allen anderen Parteien übliche Führungsprinzip ab und wird kollektiv verwaltet. Lediglich in einer senderübergreifenden Fernsehdebatte am 20. Oktober 2015 wurde sie durch den promovierten Historiker Adrian Zandberg vertreten. Laut eigenen Angaben besaß die Partia Razem im August 2015 rund 6000 Mitglieder, heute sind es … . Aufgrund ihrer linken Programmatik, der Abgrenzung von den etablierten Parteien, den unkonventionellen, basisdemokratischen Organisationsformen und der violetten Kampagnenfarbe, wird sie mit der spanischen Podemos-Partei verglichen.
Zur Parlamentswahl am 25. Oktober 2015, also nicht einmal 6 Monate nach ihrer Gründung, gelang es ihr, in allen Wahlkreisen Kandidaten für den Sejm aufzustellen. Bei der Wahl kam sie auf 3,6 Prozent der Stimmen und verfehlte damit den Einzug in das Abgeordnetenhaus. Die Sperrklausel liegt bei 8 Prozent. Das Ergebnis wurde jedoch als Achtungserfolg gewertet, da der Partei nur ca. 1,2 Prozent prognostiziert worden waren und sie nun staatliche Parteienfinanzierung erhält. Adrian Zandberg selbst erhielt 49.711 Wählerstimmen. Für die Europawahl 2019 gibt es von Seiten von Razem mit dem Wahlflügel der paneuropäischen Bewegung DiEM25 zusammenzuarbeiten.
Am 10. Mai ging es dann weiter nach Krakau, wo ein offenes Treffen mit der lokalen Razem-Gruppe anstand. Das Treffen, zu dem 25 Interessierte gekommen sind, fand in einem offenen linken Zentrum statt und bot die Gelegenheit Fragen zur Arbeit der GUE/NGL loszuwerden sowie auch tagespolitische Themen zu diskutieren. In einer lebendigen und produktiven Diskussion wurde sich über die aktuellen Probleme in Polen aber auch in anderen EU-Mitgliedstaaten ausgetauscht. Am Ende haben sich alle an der Diskussion Beteiligten darauf einigen können, dass eine Reform der EU-Verträge sowie ein handlungsfähiges Europäisches Parlament nötig sind, um die sozialen Probleme in der EU zu lösen und die Lebenslage vieler Menschen zu verbessern.
Denn trotz der anfänglichen Euphorie über den EU-Beitritt Polens, wurde schnell deutlich, dass es ohne der Beschäftigung mit sozialen Fragen nicht geht. Aufgrund dessen, dass Sozialleistungen nicht ausgebaut, sondern eher eingefahren wurden, hat der EU-Beitritt bei vielen Pol_innen das Gefühl der Frustration über die nicht erfüllten Hoffnungen eines “westeuropäischen” Lebensstandards bewirkt. Währenddessen konnten sich vor allem auch aufgrund der Schwäche von liberalen und linken polnischen Parteien auf dem Gebiet der Sozialpolitik, rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien wie die PiS dadurch profilieren, dass sie mit dem Second Child Benefit die erste wirksame Sozialleistung nach 1989 einführten und damit die Situation von armen und kinderreichen Familien spürbar verbesserten. Daher ist es unabdingbar, dass linke Parteien sich dieses Themas annehmen und es nicht den nationalistisch argumentierenden konservativen Kräften überlassen. Auch hier braucht es europäische Lösungen, damit Europäer*innen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ein Ansatz wären eine gemeinsame europäische soziale Sicherung, vereinheitlichte Renten, Arbeitslosenversicherungen und Mindestlöhne, sowie ein vereinheitlichtes Steuersystem. Nur so können gleichwertige Lebensverhältnisse für alle Menschen in europäischen Ländern geschaffen werden.
Hier steht auch die LINKE in zweierlei Verantwortung. Die Zusammenarbeit mit linken, aktiven Kräften sollte durch die GUE/NGL und den Landesverband DIE LINKE Sachsen intensiviert werden. Diese Zusammenarbeit sollte so gestaltet werden, dass sie auf die Bedürfnisse der polnischen Strukturen angepasst ist – nachdem diese von den Pol*innen geäußert wurden
Cornelia Ernst, Anna Gorskih, Björn Reichel