Den Geflüchteten eine Stimme geben
Das Novum des europäischen Geflüchteten- und Migranten Parlament. Der Auftakt für die Bildung einer Struktur, die von den europäischen Institutionen respektiert wird.
Am 17. und 18. Oktober 2018 fand im Europaparlament in Brüssel das erste Geflüchteten- und Migranten Parlament statt. Anwesend waren 30 selbstverwaltete Geflüchteten- und Migranten-organisationen aus 16 europäischen Ländern. Die etwa 120 Teilnehmerinnen folgten der Einladung einer parlamentarischen Initiative der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken, GUE/ NGL.
Um diese Anhörung Wirklichkeit werden zu lassen, hatten vier Geflüchteten-Netzwerke zuvor monatelang ihre Kollektive, Aktionsgruppen und Persönlichkeiten dafür mobilisiert. Die Internationale Koalition der Geflüchteten und Migranten ohne Papiere (CISPM), das Netzwerk Ideen und Vorschläge von Geflüchteten für Europa (RISE), das Europäische Netzwerk der Migrantenfrauen (ENMW) und der Weltrat der Hazaras Afghanistan (WHC). Alle haben sich in Telefon-Konferenzen gegenseitig Mut gemacht in Brüssel ans Podium zu treten und öffentlich ihre eigene Stimme zu erheben, um von ihren täglichen Kämpfen zu berichten. Raus aus den Hinterhöfen Europas für ein selbstbestimmtes Leben in Anerkennung, Würde und Respekt.
„Es wird so viel über uns geredet, geschrieben und entschieden von den Populisten, den Journalisten und in der Politik, dabei bin ich immer wieder überrascht wie wenig in den Parlamenten Europas über die Probleme und Forderungen von Geflüchteten wirklich bekannt ist“, brachte es Ali auf den Punkt. Er ist als Dissident aus dem Sudan geflohen und engagiert sich seit vielen Jahren in der Gruppe Lampedusa in Hamburg, welche der GUE/NGL-Fraktion vor einem Jahr den Vorschlag für diese Initiative gemacht hat. „Warum spricht man nicht mit uns? Wir sind doch diese Menschen.“ sagte er als erster Redner des Geflüchteten und Migranten Parlament in einer Debatte auf Augenhöhe und getragn von gegenseitigem Respekt.
Es ist nicht leicht für die Anwesenden, ihre Geschichten immer und immer wieder zu erzählen und sie dabei zu durchleben: den Verlust von Angehörigen, die Entbehrungen der Flucht, die Schmerzen, die Ungewissheit und den Krieg. Deshalb startete diese Zusammenkunft auch mit einer Schweigeminute für all die Opfer der weltweiten Flucht- und Migrantenströme, welche auf der Suche nach einem besseren Leben umgekommen sind. Zehntausende davon sind allein im Mittelmeer ertrunken.
Eines wird bei den Redebeiträgen von Menschen aus Afghanistan, Somalia oder dem Kongo schnell deutlich. Sie alle haben die gleichen Probleme in Europa und niemand verlässt gerne seine Familie, sein ganzes soziales Leben und macht sich auf in ein unbekanntes Land, dessen Sprache man nicht spricht. Das ist immer nur der letzte Schritt, nach langen Jahren der Verzweiflung, großen Leids und einer ausweglosen Perspektive.
„Wir fordern unsere Rechte ein und wir fürchten niemanden“ sagt Salah, der seine beiden Brüder in Libyen verloren hat. „Wir alle wissen dass unser Länder von korrupten Eliten und gewissenlosen Diktatoren regiert werden, aber wir haben immer selber gegen den Terrorismus angekämpft. Für eine bessere Zukunft. Nach der Intervention durch die Nato-Luftangriffe und dem Staatszerfall Libyens erscheint mir der Tod meiner beiden Brüder auf einmal so sinnlos.“
Manal aus Syrien berichtete von ihren traumatisierten Kindern, welche sich gar nicht für die dänische Gesellschaft öffnen können ohne gleichzeitig mit einem Therapeuten auch über die Nahtoderlebnisse beim Kentern ihres Bootes vor der griechischen Insel zu sprechen, das die Hälfte der Insassen nicht überlebten. „Wie sollen wir uns integrieren, wenn wir mit unseren Brüdern und Schwestern in Lagern sitzen, weggesperrt hinter hohen Zäunen und an den Stadträndern, ohne das Recht sich frei zu bewegen, zu arbeiten und etwas neues aufzubauen“ fragt Kone aus Italien?
Die erste Podiumsdiskussion trug den Titel „Kampf für fundamentale Rechte und gegen Ausbeutung“ und wurde von der Abgeordneten Cornelia Ernst (Die Linke) eröffnet. Sie war mit Ihrem Team federführend bei der Planung der GUE-Initiative des Geflüchteten- und Migranten Parlament.
„Sollte es uns wirklich ernst damit sein, Geflüchtete und Migranten in unserer Gesellschaft willkommen zu heißen, müssen wir ihnen endlich auch auf Augenhöhe begegnen und sie für sich selbst sprechen lassen“, sagte sie. „Uns geht es dabei um eine Struktur, die Geflüchtete und Migranten auf europäischer Ebene als Akteure stärkt. Wir haben das Europaparlament, das zweifellos die politische Vielfalt Europas widerspiegelt. Wo aber bleiben die Millionen Geflüchteten und Migranten in der EU? Deren Vertretung muss jetzt entstehen. Und wir meinen es wirklich ernst damit. Es geht uns um eine Struktur, die von den europäischen Institutionen respektiert wird.“
An thematischen Baustellen für solch eine Vertretung mangelt es sicher nicht. Tracey Ayero aus Uganda engagiert sich in den Niederlanden für die Rechte afrikanischer Homo-, Bi-, Trans- und Intersexueller (LGBT) und erzählt von erniedrigenden Praktiken bei der Bearbeitung von Asylanträgen von Menschen aus diesem Personenkreis. Siliman aus Italien beschrieb die zunehmend rassistische Praxis der populistischen Regierung sowie die Ausbeutungsbedingungen in der Landwirtschaft. „Immer wieder kommen in Italien Geflüchtete durch veraltete Landwirtschaftsmaschinen und wegen inakzeptabler Arbeitsbedingungen ums Leben.“
Die französische Abgeordnete Marie-Christine Vergiat (Front de gauche) moderieret eine Podiumsdiskussion, bei der es um die Verantwortung der EU für Flucht und Migration ging.
„Geflüchtete Frauen sind neben den patriarchalen Strukturen auch noch zusätzlichen Unterdrückungs-mechanismen ausgesetzt. Sie haben keinen legalen Status können Vergewaltigungen oder Miss-handlungen nicht anzeigen, da ihnen dann die Abschiebung droht,“ erläutert Anna Zobnina vom European Network of Migrant Women.
Andere Beiträge drehten sich vor allem um die Fluchtursachen, die aktuelle Abschottungspolitik sowie die rechtliche Situation von Geflüchteten in Europa. Abdul Halim Hamaidi vom „World Hazara Council“ beschrieb dabei die anhaltende Zerstörung Afghanistans durch das Handeln der westlichen Staaten und die besondere Ausgrenzung der Bevölkerungsgruppe der Hazara. „Die EU-Staaten verursachen durch die andauernden Waffenexporte und Rüstungsdeals die Verschärfung vieler Konfliktherde“, sagte Anzoumane von CISPM aus Frankreich. „Statt des Ausbaus der europäischen Grenzagentur Frontex, sollte man lieber finanzielle Hilfen der EU für den Aufbau der Volkswirtschaften in Afrika und dem Nahen Osten zur Verfügung stellen“, ergänzte Razia Arooje von RISE.
In der Nacht vor der Anhörung einigten sich die Netzwerke auf eine gemeinsame Resolution mit weiteren konkreten Forderungen, wie der Aussetzung von bilateralen Abkommen, welche Abschiebungen erleichtern, einer echten Freizügigkeit und dem Ende der Kriminalisierung von Solidaritätsnetzwerken. Die Gruppe Lampedusa in Hamburg hatte dafür eigens einen Kameraman aus Kamerun und einen afghanischen Radiomoderator mitgebracht, um die Veranstaltung in einem Filmprojekt zu dokumentieren.
Der Auftakt für ein verstärkte europäische Zusammenarbeit der bestehenden Netzwerke ist gemacht und das Geflüchteten- und Migranten Parlament soll zukünftig jährlich stattfinden. Am Besten in Zusammenarbeit mit den anderen Fraktion im Europaparlament. Ein starkes Zeichen für den Schutz der Grundrechte und gegen eine inhumane Asyl- und Migrationspolitik. Im Einsatz für das gemeinsame Fundament auf dem unsere Idee eines solidarischen Friedens-Projekts Europa immer noch steht.
Heraldo Hettich