Ohne Zivilgesellschaft wäre die EU nur ein autoritärer Binnenmarkt
Was sie nicht ist. Denn die politische Debatte in und über Europa findet nicht nur in den Raumschiffen wirklicher oder vermeintlicher Staatenlenker(innen) statt, sondern auch vor deren Türen, in den Denkfabriken der Hauptstädte ebenso wie im ländlichen Raum und auf den Straßen und Plätzen. Sogar in den Mailboxen der Abgeordneten, in Fraktionsräumen, vor und im Parlament, im Umfeld von Stiftungen, getragen von unzähligen NGO‘s, die Input haben und nicht ins Gerede kommen und verwechselt werden dürfen mit der knallharten Lobby von Autokonzernen, der Gas- und Ölindustrie, die für den nächsten Vorteil, auf den sie spekulieren, am Werkstisch mancher Abgeordneten sitzen, um ihnen in die Feder zu diktieren. Auch deshalb muss es Normalität werden, die Transparenz zu erhöhen. Insofern hat jede und jeder Abgeordnete auch eine persönliche Verantwortung, welche Interessen sie oder er vertritt.
Zivilgesellschaft beruht auf gesellschaftlicher Selbstorganisation
Die Stärke einer demokratischen Gesellschaft zeigt sich darin, wie ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und die Stabilität ihrer demokratischen Verfasstheit in Einklang gebracht werden. Wie dieses Verhältnis künftig aussehen soll, auf allen Ebenen, wird heutzutage verhandelt.
Welche Macht Zivilgesellschaft haben kann, zeigt sich immer dann, wenn Interessen gebündelt werden, wie bei TTIP, den großen Demonstrationen, die in mehreren Mitgliedstaaten stattfanden. Hunderttausende gingen auf die Straße, trotz breit gefächerter politischer Unterschiede, so dass diese Proteste unüberhörbar wurden. Für TTIP dann noch offensiv einzutreten, fiel selbst Hardlinern schwer, wollen doch irgendwie fast alle wiedergewählt werden. So ist es jetzt darum stiller geworden, das Abkommen ist auf Eis, aber nicht weg vom Tisch, mancher hofft auch auf einen neuen US-Präsidenten. Andere Freihandelsabkommen konnten sich durchmogeln, sahen aber auch besser aus, wie das mit Japan. Europäische Zivilgesellschaft sammelt sich daher nicht nur in Brüssel, sondern zuallererst in den Mitgliedstaaten.
Und wenn zeitgleich in mehreren Mitgliedstaaten zum Halali geblasen wird, lässt sich das nicht abtun. Neuerdings müssen schon Schülerinnen und Schüler ins Europaparlament kommen, um ihre Forderung nach einer radikalen und nachhaltigen Bekämpfung der Klimaerwärmung vorzubringen. Auch das zeigt, wo wir gerade stehen. Das Gezerre neoliberaler Strategen, progressiv zu erscheinen, ohne wirklich was voranzubringen, stinkt viele an und gefährdet die Zukunft unseres Erdballs. Dass Jugendliche das auch noch lang und breit erklären müssen, sollte zum Nachdenken führen und zum Handeln. Im Übrigen bei allen Parteien, keine könnte ernsthaft behaupten, genug getan zu haben und zu tun. Das behäbige Bestandsdenken führt uns in globalen Fragen faktisch an den Abgrund. Dies aufzubrechen braucht den Druck von außen. Wohl wissend, dass in Parlamente immer noch Parteien gewählt werden, muss Zivilgesellschaft »angreifen«. Jetzt.
So wie die Demonstrantinnen und Demonstranten gegen das neue Urheberrecht, die die Bühne der Öffentlichkeit nutzten, um Klartext zu reden. Auch auf der Dresdner Demonstration gegen Artikel 13 gab es die übergreifende Botschaft »nie wieder CDU«, logisch, weil die Urheberrechtsreform in Federführung eines CDU-Politikers war. Es ist selten, dass in Bezug auf europäische Entscheidungen so klar Ross und Reiter benannt werden, was die SPD bewogen hatte, noch schnell den Beschluss zu fassen, doch nicht für die umstrittene Urheberrechtsreform im Europaparlament zu stimmen. Zu spät, ihr Mitverschulden war es, in Vorverhandlungen, Ausschüssen, zur ersten Lesung, weitgehend mitgemacht und sich dem Druck in der eigenen Fraktion ergeben zu haben, einzelne Standhafte ausgenommen. Auch wir haben hart kämpfen müssen, weniger in der Partei DIE LINKE, aber massiv in der eigenen GUENGL-Fraktion. Fakt ist letztlich: Wir hätten fraktionsübergreifend gemeinsam und frühzeitig klar Schiff machen müssen. Hilfreich wäre für alle gewesen, einfach mal der Sachkompetentesten zuzuhören, in dem Fall der Abgeordneten Julia Reda, die sich übrigens nicht zu schade war, in unsere Fraktion zu kommen, um zu erklären, was das ist, ein Urheberrecht. Hätten ein relevanter Teil der immer noch großen S&D-Fraktion, aber auch andere früher nachgedacht, wäre eine Abwendung des Desasters denkbar gewesen.
Meinungsbeitrag von Dr. Cornelia Ernst in den Europa-Nachrichten Nr. 3 vom 10.4.2019