Delegationsreise von „The Left“ nach Griechenland
Die Europaabgeordneten Kostas Arvanitis (Syriza, Griechenland), Sira Rego (Izquierda Unida, Spanien) und Cornelia Ernst (Die.Linke., Deutschland) reisten vom 8. bis zum 12. Juli 2021 nach Griechenland, um sich gemeinsam einen Eindruck über die Lage von Geflüchteten vor Ort, im Kontext des geplanten EU-Migrationspaktes, zu machen sowie sich die Zusammenarbeit der griechischen Behörden und Frontex an der griechisch-türkischen Grenze entlang des Evros genauer anzuschauen.
Zu Beginn der Reise trafen sich die Abgeordneten mit SYRIZA-Generalsekretär, Dimitris Tzanakopoulos. Dabei ging es vor allem um die aktuelle Situation von Geflüchteten in Griechenland und den geplanten Migrationspakt der EU-Kommission. Man war sich einig, dass nur eine Lösung auf europäischer Ebene der derzeitigen Situation vor Ort gerecht werden kann. Kern der Lösung muss ein fairer, obligatorischer Verteilungsmechanismus sein, der auf europäischer Solidarität beruht. Dazu bedarf es auch der Zusammenarbeit linker Kräfte in Europa auf allen Ebenen. Einen ähnlichen Tenor hatte die anschließende Diskussion mit SYRIZA-Abgeordneten des griechischen Parlaments, in deren Mittelpunkt vor allem die politische Situation in Griechenland in Bezug auf Migration stand. Es ging um die Rechte von Antragssteller:innen und anerkannten Geflüchteten und den Zugang zu Asylverfahren, einschließlich der Problematik der jüngsten Entscheidung der griechischen Regierung, die die Türkei als „sicheres Drittland“ einstufte.
Am zweiten Tag der Reise besuchte die Delegation das Camp „Ritsona“. Hier fanden Gespräche mit dem Direktor des Lagers, dem Bildungskoordinator, den Vertreter:innen der griechischen Gesundheitsbehörden und den „Bewohnern:innen“ des Lagers, darunter auch Parwana Amiri, statt. Es wurde deutlich, dass die „Bewohner:innen“ nur sehr eingeschränkten Zugang zu Informationen, Anwälten, Dolmetscher:innen und Rechtshilfe haben. Einige „Bewohner:innen“ sind schon Monate, manche sogar Jahre im Lager gestrandet. Um das Lager wird momentan eine drei Meter hohe Betonmauer errichtet. Das Lager ist „offen“ in dem Sinne, dass die „Bewohner:innen“ rein- und rausgehen können, wann sie wollen, wenn sie ihre Registrierungskarte vorzeigen. Die Lage des Camps und das Fehlen jeglicher Transportmittel macht es den „Bewohner:innen“ jedoch unmöglich, das Lager zu verlassen. Die Unterbringung erfolgt in Containern, die sich zum größten Teil in einem sehr schlechten Zustand befinden. Mit Ausnahme einiger täglicher Aktivitäten, die den Kindern angeboten werden, gibt es im Lager absolut nichts zu tun. Die „Bewohner:innen“ drückten ihre Verzweiflung auch über dieses Problem aus, das neben den schlechten Bedingungen und der Ungewissheit über ihre Zukunft zusätzlich ihr psychisches Wohlbefinden stark beeinträchtigt . Ein großes Problem ist, dass die Kinder in den letzten anderthalb Jahren nicht zur Schule gehen konnten. Einen Teil dieser Zeit waren die Schulen wegen der Pandemie geschlossen. Es gab zwar virtuellen Unterricht, aber die Kinder konnten diesem Unterricht, wegen mangelnder Ressourcen, nicht folgen. In der Zeit, in der die Schulen geöffnet waren, konnten die Kinder nicht teilnehmen, da die Region keine Busse für den Transport zur Verfügung stellte (das entsprechende IOM-Programm wurde vor zwei Jahren beendet). Trotz vorhandener EU-Mittel war niemand bereit, die Transportkosten für die Kinder zu bezahlen und die lokalen Bürgermeister bezeichneten die geflüchteten Kinder öffentlich als Gefahr für ihren Ort.
Am Abend fand ein Treffen der Delegation mit lokalen NGOs, dem „Greek Council for Refugees“, „Refugee Support Aegean“ und dem „Border Violence Monitoring Network“ (BVMN) statt. Die Diskussion konzentrierte sich auf Pushbacks, die rechtliche und soziale Lage für Geflüchtete in Griechenland und die konkreten Aufnahmebedingungen. Ein wichtiger Aspekt, der diskutiert wurde, war das Fehlen eines robusten, unabhängigen und mit Rechtsmitteln ausgestatteten Überwachungsmechanismus auf nationaler und europäischer Ebene. Alle Anwesenden waren sich einig, dass der in der von der Kommission vorgeschlagenen Screening-Verordnung vorgesehene Mechanismus keineswegs zufriedenstellend ist.
Am Samstag ging es weiter in die Region um Alexandroupoli, wo das Fylakio Reception and Identification Center (RIC) und Preremoval Center (PROKEKA) in Orestiada in der Nähe der griechisch-türkischen Grenzen besucht wurden. Das Fylakio RIC ist ein geschlossenes Zentrum und „beherbergt“ Personen, die von der Polizei beim Versuch des Grenzübertritts aufgegriffen wurden. Sie alle werden von der Polizei an das RIC verwiesen und haben eine von den örtlichen Polizeibehörden ausgestellte administrative „decision for detention“. Vor Ort wurde mit den „Bewohner:innen“, dem stellvertretenden Direktor des Zentrums und dem Verantwortlichen des UNHCR gesprochen. Im Zentrum waren Personen verschiedenster Nationalitäten, einschließlich unbegleiteter Minderjähriger. Sie leben in Containern in jeweils abgeschlossenen Bereichen, die durch Zäune und Stacheldraht getrennt sind. Die Minderjährigen zeigten der Delegation vernarbte Hände und Arme, Selbstverletzungen, alles Zeugnisse psychischer Belastungen und Depressionen.
Bei der Verteilung der Personen in den geschlossenen Bereichen wird auf das Kriterium der Nationalität geachtet, um so mögliche Konflikte zu vermeiden. Der Umkreis des RIC ist ebenfalls durch hohen und dichten Stacheldraht gekennzeichnet. Der Ort verfügt über Ärzte, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, aber außer einem Raum, der für Aktivitäten für kleine Kinder vorgesehen ist, ist kein Platz oder eine anderweitige Möglichkeit für irgendeine Art von Aktivitäten für die „Bewohner:innen“ vorhanden. Der UNHCR ist im Lager anwesend und für die Bereitstellung von angemessenen Informationen über die Asylverfahren verantwortlich. Der UNHCR verwies darauf, dass viele der Menschen in Gesprächen von Misshandlungen durch die griechischen Polizeibehörden berichten bzw. dass sie zuvor in die Türkei zurückgeschoben wurden. Außerdem beklagten viele, dass sie schon sehr lange Zeit im RIC gestrandet sind.
Das Prokeka, eine Art Polizeistation, diente zur Zeit des Besuchs als „unterstützende Struktur“ für das RIC, in dem ebenfalls Menschen, die beim Versuch des Grenzübertritts aufgegriffen wurden (mit Ausnahme von unbegleiteten Minderjährigen), „untergebracht“ sind, bevor sie in das RIC verlegt werden können. Der Ort ist ein Gefängnis mit schlechten Bedingungen und dies trotz der kürzlichen Renovierung des Gebäudes. Die käfigartigen Räume, in denen die Menschen zusammengepfercht festgehalten werden, sind sehr klein (vor allem für die Anzahl der anwesenden Personen). Sie haben Gitter und es gibt kaum natürliches Licht. Die Familien (darunter auch Frauen) werden zusammen mit alleinstehenden Männern in einer Zelle untergebracht. Polizisten reichten mit langen Stäben in die Käfige Dinge, so dass sich die Delegation an eine Show im Tierpark erinnert fühlte Der Delegation wurde verboten, mit den Menschen in den Zellen zu sprechen. Dennoch wurde sehr deutlich, dass deren Lage außerordentlich prekär ist.
Am Nachmittag traf die Delegation den lokalen Chef der griechischen Polizei, der einen Überblick über die Situation seit März 2020 gab. Nach seinen Angaben sei die Präsenz von Frontex in der Region ein „sehr positives Element“. Die Grenzüberwachung erfolge gemeinsam, unter der Verantwortung der griechischen Polizei, wobei sich immer ein griechischer Beamter an Bord jedes Frontex-Fahrzeugs befinde. Nach Aussage des Polizeichefs habe es keine Pushbacks von Griechenland in die Türkei gegeben, weder an den Grenzen noch innerhalb des Territoriums. Er bestätigte jedoch die gemeldeten Vorfälle von mindestens drei „Gruppen-Pushbacks“ von Bulgarien nach Griechenland. Er bestätigte auch, dass die zurückgedrängten Personen geschlagen wurden, dass sie barfuß waren, in einigen Fällen keine Kleidung trugen und dass ihnen alle ihre Habseligkeiten abgenommen wurden. Er bestätigte weiterhin, dass Frontex-Beamte in allen Fällen an der Befragung dieser Personen teilgenommen habe
Am Sonntag besuchte die Delegation das Camp „Kleidi“ in der Region um Serres. Es gab Gespräche mit „Bewohner:innen“, dem Leiter des Lagers und Vertreter:innen der IOM. Das Lager ist sehr neu. Erbaut innerhalb von 10 Tagen Anfang 2020, liegt es in einer sehr abgelegenen Gegend in einer Schlucht und ist von Zäunen und Stacheldraht umgeben. Auch die interne Trennung der Abteile erfolgt mit Stacheldraht. Das Lager ist „offen“ in dem Sinne, dass maximal 42 Personen pro Tag den IOM-Bus in die Stadt (Serres) benutzen können. Auch die anderen können das Lager theoretisch „verlassen“. Aber in der Nähe gibt es weder Geschäfte noch Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel. Das Lager „beherbergt“ bereits registrierte Personen, die entweder über die Inseln oder über die Landgrenzen nach Griechenland gekommen sind. Die meisten von ihnen warten ihr Asylverfahren ab, einige von ihnen schon mehr als ein Jahr. Die Wetterbedingungen sind extrem. Temperaturen von ca. 40 Grad im Sommer und kaum Schatten im Lager. Im Winter hingegen können die Temperaturen weit unter Null Grad fallen. Die Duschen befinden sich draußen in einem Gemeinschaftsbereich. Sowohl die Behörden des Camps als auch die „Bewohner:innen“ sind besorgt über mögliche Überschwemmungen durch Regenfälle im Herbst und Winter, aufgrund der besonderen Lage der Einrichtung in einer Art Schlucht. Es gibt keine Möglichkeit, tagsüber irgendwelche Freizeitaktivitäten auszuüben. Nur die Kinder haben einen eigenen „Platz“, wo mit Unterstützung der IOM Aktivitäten angeboten werden.
Die Delegation wurde auch darüber informiert, dass das psychische Wohlbefinden der „Bewohner:innen“ ein großes Thema ist. Die IOM bestätigte, dass es immer wieder Fälle von Selbstverletzungen durch „Bewohner:innen“ gibt. Beim Austausch mit den „Bewohner:innen“ drückten diese ihre Verzweiflung über den Ort und die Bedingungen sowie ihren Stress aufgrund der ungewissen Zukunft aus. Mehrere Fälle von Betroffenen, die noch auf ihre Familienzusammenführung warten, wurden zur Sprache gebracht und der Lagerleiter bestätigte, dass aufgrund von COVID alle Dublin-Fälle zur Familienzusammenführung „pausiert“ sind.
Am Abend traf sich die Delegation mit Vertreterinnen des „Border Violence Monitoring Network“ in Thessaloniki. Es gab ein ausführliches Gespräch über die Situation der letzten Monate, die Arbeit ihrer Organisation vor Ort, die täglichen push-back Praktiken und die Rolle von Frontex. Es wurden Überlebende von Pushbacks angehört, die der Delegation ausführlich und eindrücklich ihre Erfahrungen schilderten. Sie Zeugen schilderten Szenen unvorstellbarer Gewalt durch die griechische Polizei, eine:r war schon mehr als zehn mal von der griechischen Polizei zurückgeschoben worden.
Man vereinbarte, weiter eng zusammenzuarbeiten, sich gegenseitig zu unterstützen und speziell die Rolle von Frontex in diesen Praktiken genau zu beobachten. Großer Dank gilt den Organisationen und Zeugen, die täglich Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen dokumentieren und ohne die die Aufklärung und die Untersuchung dieser Verfehlungen überhaupt nicht möglich wäre.