Öffentlich statt privat: Linke Industriepolitik für eine Wirtschaft im Umbruch
Europa erlebt eine Vielfachkrise, die die europäische Industrie- und Wirtschaftspolitik vor schwerwiegende Herausforderungen stellt – und an alten neoliberalen Grundsätzen rüttelt. Ausschlaggebend hierfür sind eine Vielzahl an sich überlappenden Entwicklungen:
- Der menschengemachte Klimawandel und die Überschreitung planetarer Grenzen bedroht die klimatische und ökologische Stabilität der Erde – und untergräbt dadurch die Basis funktionierender Ökonomien. Vor diesem Hintergrund erleben wir einen erbittert geführten Richtungsstreit über die Ausrichtung des Kapitalismus, nicht aber über den Kapitalismus selbst: Während alte fossile Fraktionen um jeden Tag ringen, den sie ihr Geschäftsmodell verlängern können, richten sich andere auf eine ökologische Modernisierung und vermeintlich grünen Kapitalismus aus. Dieser Richtungsstreit durchzieht die gesellschaftlichen Institutionen und Machtapparate und übersetzt sich auch in konkrete Gesetzgebungen: So hat die Europäische Union im Rahmen des Grünen Deals einerseits ein Klimagesetz vorgelegt, das im globalen Maßstab durchaus als ambitioniert gilt (und dennoch nicht genügt, um Minderungspfaden für „deutlich unter zwei Grad“ Erderwärmung zu entsprechen). Andererseits unterläuft sie ihre eigene Zielsetzung, in dem sie in einzelnen Gesetzesakten immer wieder Hintertüren für die Verlängerung fossiler Geschäftsmodelle zulässt. Und als wäre das nicht genug, blasen die europäischen Konservativen und Rechten für die kommende Legislatur zum Angriff auf den Grünen Deal.
- Die COVID-Pandemie hat die Störanfälligkeit globaler Liefer- und Wertschöpfungsketten in Erinnerung gerufen. Nach drei Jahrzehnten unangefochtener und ungebremster kapitalistischer Globalisierung gingen damit auch Debatten über die Ansiedlung bzw. Wiederansiedlung von strategisch relevanten und für die Daseinsvorsorge unabdingbarer Sektoren sowie über die Regionalisierung von Wirtschaftskreisläufen einher.
- Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die daraufhin eskalierende Energiepreiskrise haben darüber hinaus die massive Abhängigkeit europäischer Industrien von fossilen Energien aufgezeigt. Diese werden nicht selten von autoritären Regimen bezogen. Der verzögerte Ausbau der Erneuerbaren ist demnach nicht nur klimapolitisch fatal, sondern schadet der Resilienz europäischer Industrien und der globalen Demokratie.
- Hinzu kommt ein Subventionswettlauf, in dem Staaten weltweit um die Ansiedlung von Industriestandorten sowie die Marktführerschaft im Bereich grüner und digitaler Technologien ringen. Zentrale Akteure jenseits der EU sind hierbei die USA und die Volksrepublik China, die mit dem „Inflation Reduction Act“ (IRA) bzw. „Made in China 2025“ milliardenschwere Subventionsprogramme vorgelegt haben. Insbesondere China kann zudem eine hohe Konzentration im Bereich der Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen vorweisen.
Die hier skizzierten Entwicklungen haben auch in Brüssel eine neue Offenheit für industriepolitische Maßnahmen hervorgerufen. Zugleich wird jedoch bisher die Chance verpasst, einen wirklichen Paradigmenwechsel vorzunehmen. Denn zentrale industriepolitische Gesetzgebungen dieser Legislatur – darunter das Netto-Null-Industriegesetz, das Gesetz über kritische Rohstoffe und das Chips-Gesetz – zielen vor allem darauf ab, durch deregulierte Genehmigungsverfahren private Investitionen anzureizen. Auf eigenständige EU-Investitionen im großen Umfang und den Aufbau öffentlicher Steuerungskapazitäten wird hingegen verzichtet. Damit wird die grüne Transformation weitestgehend Marktkräften überlassen. Dort, wo Subventionen getätigt werden, dienen sie vor allem der Absicherung privater Investitionsrisiken („De-Risking“) – ohne dabei an soziale oder ökologische Konditionen gekoppelt zu sein. Insofern sind staatliche Stimuli für die Industrie unter Umständen zu begrüßen, sie gehen derzeit jedoch in eine falsche Richtung.
Gleiches gilt für die teilweise stattfindende Revision des Beihilferechts (bspw. im befristeten Krisen- und Transformationsrahmen, TCTF, oder bei „wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse“). Diese ist zunächst zu begrüßen, birgt jedoch auch Risiken für den Zusammenhalt der Union: Die ungleiche Finanzstärke der Mitgliedsstaaten führt zu einer ungleichen Auszahlung von Beihilfen und gefährdet die gleichmäßige Entwicklung des Binnenmarktes. Von den bis Ende 2022 im Rahmen des TCTF 93,52 Milliarden Euro getätigten Beihilfen, entfielen 76% allein auf Deutschland. Die EU-Kommission kündigte vor diesem Hintergrund die Einführung eines europäischen Souveränitätsfonds an. Diese wurde allerdings verschoben und durch die Plattform „Strategische Technologien für Europa“ (STEP) ersetzt. STEP verfügt dabei über nahezu keine eigenständigen Mittel und soll vielmehr bestehende Fonds für Unternehmen im Bereich strategischer Technologien öffnen. Dadurch werden Gelder, die ursprünglich für Investitionen in öffentliche Infrastrukturen oder Forschung gedacht waren, für private Unternehmen mobilisiert – eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
Schließlich ist auch eine mangelnde strategische Selektivität hinsichtlich geförderter Technologien zu festzustellen, die oftmals mitgliedsstaatlichen Partikularinteressen sowie dem Diskurs über eine vermeintliche Technologieoffenheit geschuldet ist. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Die jüngste Reform des europäischen Strommarktes ermöglicht es Mitgliedsstaaten, auch Atomkraft über zweiseitige Differenzkontrakte zu fördern. Die europäische Wasserstoffbank kann auch blauen Wasserstoff (Gas + CCS) fördern. Neben Atomkraft sind auch synthetische Kraftstoffe Gegenstand des Netto-Null-Gesetzes. Und in der EU-Taxonomie gelten Atomkraft und fossiles Gas als nachhaltig.
Für Die Linke bietet die gegenwärtige Situation dennoch Interventions- und Gestaltungsmöglichkeiten.
Wir setzen uns für eine sozial und ökologisch gerechte Transformation ein, die zur Erhaltung und Schaffung guter Arbeitsplätze beiträgt und eine starke gesellschaftliche Verankerung genießt. Wir wollen Kosten und Gewinne der Transformation gerecht verteilen und die Macht der großen Konzerne beschränken. Die Transformation darf deswegen nicht allein dem Markt überlassen werden. In strategischen und für das Gemeinwohl relevanten Sektoren braucht es öffentliche Kontrolle, Steuerung und auch vorausschauende demokratische Planung. Wir stehen für eine solidarische europäische Industriepolitik, die durch gemeinsame Instrumente den Zusammenhalt der EU stärkt, anstatt ihn zu gefährden. Schließlich setzen wir uns gegen klima- und energiepolitische Scheinlösungen ein: Der Linken kommt die Aufgabe zu, den Grünen Deal gegen Angriffe von rechts zu verteidigen und ihn zugleich zuzuspitzen. Es geht um viel: Eine Wirtschafts- und Klimapolitik, die zu steigenden Preisen, mangelnder Mitbestimmung und einem als übermäßig invasiv wahrgenommenen Staat führt, produziert ihre eignen Gegner. Diese drohen bereits jetzt, Mehrheiten gegen die grüne Transformation mobilisieren zu können. Doch eine Verzögerung können wir uns nicht leisten.